Renate Olbrich

Progressive Universalpoesie

In den Malcollagen von Renate Olbrich begegnet uns ein sinnlicher Zugang zur Welt. Die reliefartigen Oberflächen reizen den Tastsinn und evozieren ein Begreifen, das einer aisthetischen Aneignung von Welt gleichkommt. In den großformatigen, farbprächtigen Tableaus scheint die ästhetische Philosophie eines Alexander Gottlieb Baumgarten ihren Ausdruck gefunden zu haben, in der entsprechend zu den Leistungen der rationalen Logik den Sinnen Erkenntnisvermögen zugeschrieben wird.

So betrachtet ist Renate Olbrichs künstlerische Praxis genuin. Sie schweift mit der wachen Aufmerksamkeit ihrer Sinne durch die Welt, sammelt Eindrücke und Gegenstände und verwandelt alles, was ihr Interesse weckt, in Bilder mit motivischer Fülle. Mit diesen Bildern konstruiert sie Wirklichkeit. In ihrer Kunst spiegelt sich unmittelbar aisthetisches Denken: über die sinnliche und emotionale Erfahrung bilden sich Vorstellungen und Phantasien, die in ihren Werken Gestalt finden. Dabei muten die Collagen wie Erinnerungsfragmente an, die in einer neu geordneten Gesamtheit eigene Welten formen.

Die Collagen erwecken den Eindruck von Reisetagebüchern, wobei sich wie in traumartigen Sequenzen Vertrautes und Fremdes durchdringen, Orte, Zeiten und Kulturen verwoben werden. Derart entsteht eine eigenartige Spannung zwischen den einzelnen Motiven. Jedes steht für sich, gleichzeitig aber neben- und zueinander. Die Vereinzelung der scharf umrissenden Motive lädt diese mit einer über sie hinausweisenden Bedeutung auf, so dass die Motive trotz ihrer genau bezeichnenden Gegenständlichkeit wie rätselhafte Chiffren wirken, die entschlüsselt werden wollen.

In dem gleichwertigen Nebeneinander der Motive wie Pflanzen, Geishas, Architekturen, Schädel, Buddhas und Panther klingen metaphysische Sichtweisen an, die einem analogen Seinsverständnis entsprechen. „Sein“ wird als das verstanden, was allem zukommt und worin alle Gegenstände übereinkommen, worin sie sich zugleich aber auch unterscheiden. Sein wird als Fülle verstanden.

Bezeichnend für die Collagen ist, dass trotz aller Transitorik des Seins das Bleibende betont wird. Die Manifestation des Seins vermittelt sich in den Malcollagen durch die klaren Umrisse der Motive wie durch die skulpturale Verwendung von Papier, mit dem die Künstlerin ihre Motive formt. Darin unterscheiden sich die Malcollagen deutlich von den Fotografien Renate Olbrichs. Liegt bei den Fotografien das Besondere in einer dezidiert metamorphotischen Flüchtigkeit der Motive, die in Zwielicht und Unschärfe erscheinen, wird nun das Greifbare herausgearbeitet.

Was beiden Werkgruppen jedoch gemeinsam ist, sind die poetischen Aspekte, in denen sich eine bestimmte Sehnsucht nach einer ganzheitlich zu begreifenden Welt äußert. Renate Olbrich aktualisiert souverän die Kunst der Romantik, wobei sie in ihren Bildwelten progressive Universalpoesie schafft, in der die von der Regelpoetik geforderte Einheit von Raum, Zeit und Handlung zugunsten eines individuellen Erlebens aufgehoben wird. Im Mittelpunkt ihrer eigenwilligen Kunst stehen Gefühl, Leidenschaft und Individualität als Reaktion auf das Monopol des Rationalismus. Empfindungen wie Sehnsucht, Mysterium und Geheimnis betonen eine Welt des Wunderbaren. Renate Olbrichs Bildwelten entwickeln einen Sog, der die Kraft hat, den Betrachter hineinzuziehen und mit auf eine Reise zu nehmen, zu einer Reise ins Innere der Welt und damit zu sich selbst.

Dr. Stefanie Lucci, 2011

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